Melanie Köppel
Dünne Engel fliegen leichter
Ich heiße Hannah und bin 18 Jahre alt. Als ich klein war liebte ich es, Schmetterlinge zu fangen, baden zu gehen oder tonnenweise Schokopudding zu essen. Ich mag diese Dinge auch heute noch, nur leider habe ich keine Zeit mehr für solche Sachen, ich bin zu beschäftigt.
Heute habe ich andere Interessen, wie zum Beispiel Sport!
Manche Ärzte behaupten zwar, dass ich krank wäre, doch das bin ich einfach nicht!
Sie sagen mir, ich muss mehr essen, doch meiner Meinung nach reichen eine Karotte und ein Knäckebrot pro Tag. Doch manchmal esse ich einen Teller Suppe, damit meine Mutter nicht mehr weint...
Ich hasse es, meine Mutter weinen zu sehen. ich will, nein, ich kann sie einfach nicht mehr weinen sehen. Denn sie hat schon viel zu oft um mich geweint, doch damit ihr euch etwas vorstellen könnt, beginne ich von vorne:
Stellt euch einmal ein Mädchen vor. So um die 13 Jahre alt, gesund, glücklich und unbesorgt. Es hat keine Ahnung vom Leben. Das Mädchen ist ziemlich klein und etwas pummelig. Sie hat blonde, lange Haare und süße Wangen, die immerfort rot werden.
So ein Mädchen war ich! Wirklich glücklich mit dem Leben und viele Freunde waren an meiner Seite.
Ich hatte nur Einsen und eine tolle Zukunftsaussicht. Ich wurde auf eine Modeschule angenommen, auf der ich meinen Traum vom Modedesignen verwirklichen wollte.
Wie gesagt: wollte!
Als ich auf die Modeschule kam, waren dort nur schlanke und hübsche Mädchen. Ich fühlte mich wie der letzte Dreck. Die Mädchen behandelten mich auch schrecklich. Da waren Aussagen wie „fette Kuh“ noch das Netteste, was ich hörte. Ich fühlte mich schlechter und schlechter. Das Aufstehen am Morgen fiel mir schwer, mir war jeden Tag speiübel und ich hatte Angst. Wirklich panische Angst, so dass ich noch von den Beschimpfungen träumte. Es sind Albträume die mich bis heute verfolgen: In diesen Träumen stehen die Mädchen vor mir, beschimpfen mich aufs letzte und ich kann nirgendwo hin.
Heute würde man sagen, ich wurde gemobbt, wie so viele Schüler. Ich selber beschreibe das nicht mehr als Mobbing, es war seelische Verstümmlung mit Beschimpfungen, die mir nie im Leben einfallen würden.
Kurz gesagt, ich ging durch die Hölle, aber ich traute mich nicht, meine Lehrer oder Eltern einzuweihen. Ich war zu feige und hatte Angst, vor noch schlimmeren Beschimpfungen. Also ließ ich mir alles gefallen – bis zu dem Tag, der mein Leben veränderte!
An diesem Tag sollten wir ein Kleid als Abschluss des ersten Jahres nähen. Jedoch würde das Kleid für eine andere Mitschülerin sein, also musste eine Hälfte der Klasse als Model dienen. Ich war in der Modelgruppe, und Carina musste meine Maße notieren.
Das Erste, was ich zu hören bekam, war:“ Wie soll ich denn das Maßband um dich rumbekommen? Du bist einfach viel zu fett!“ Ich kämpfte mit den Tränen, doch sie machte weiter:“ Gibt’s eigentlich noch Jeans in deiner Größe? Oder musst du dir sie schon selber nähen?“ Das war’s dann auch schon mit meiner Selbstbeherrschung. Ich rannte aus dem Raum und hörte hinter mir nur mehr das schallende Gelächter der anderen Mädchen.
Ich schwor mir, abzunehmen. Mindestens 10 Kilo. Außerdem wollte ich soviel Sport treiben, dass alle neidisch auf meinen Körper werden!
Also rannte ich nach Hause und druckte mir eine Energietabelle aus, damit ich nur mehr Lebensmittel zu mir nahm, die unter 100 Kalorien haben. Danach rannte ich so lange durch den Wald, bis ich zweimal erbrechen musste.
Ich hatte ein Ziel vor Augen und ich kontrollierte mein Gewicht jeden Tag fanatisch. Falls ich zugenommen hatte, aß ich einfach einen Tag nichts.
Die Mädchen in der Schule hänselten mich weiter, doch als ich nach einem Monat 7 Kilo abgenommen hatte, wurde es ruhiger um meine Person und sie suchten sich ein anderes Opfer.
Ich war so angespornt, dass ich mein Projekt auch nicht nach 10 verlorenen Kilos abbrechen wollte. Ich war total in Fahrt, und mir machte es nichts aus, meine Eltern zu belügen, die mich jeden Tag fragten, ob ich wohl etwas gegessen habe.
Ich kam von Kleidergröße 38 auf Kleidergröße 34, doch das war mir nicht genug. Ich begann zu essen, um nachher wieder alles zu erbrechen. Doch das reichte mir auch nicht, denn neben dem Sport schluckte ich Wattebällchen in Orangensaft getunkt. Den Orangensaft tauschte ich später durch Wasser aus, denn er hat einfach zu viele Kalorien. Aber irgendwie musste ich meinen Hunger stillen.
Natürlich fingen alle an, sich Sorgen um mich zu machen, sogar einige Mädchen, die mich vorher aufs Letzte gemobbt hatten. Da ich meine Mutter dauernd anschrie und keinen mehr an meiner Seelenverfassung teilhaben ließ, fingen sogar meine Eltern an, mich in Ruhe zu lassen. Ich war einfach zu versessen und nun war fast schon ein Jahr vergangen, seit ich meinen Lebensstil umschmiss. Damals hatte ich ein Gewicht von 40 Kilo bei einer Körpergröße von 170 cm.
Es war mir aber nicht genug, also versuchte ich es, 2 Wochen nichts zu essen. Dass mir dabei aber die Haare ausgingen und meine Zähne anfingen, locker zu werden, sah ich nicht. Ich sah immer nur das kleine dicke Mädchen im Spiegel, das unbedingt abnehmen musste. Wenn ich einkaufen ging, nahm ich automatisch immer die falsche Kleidergröße, da ich der Meinung war, dass ich sowieso in keine 38 Jeans passte. Und Arztbesuche mied ich generell. Die erste Woche meines Projekts überstand ich gut. Es war Winter und ich hatte tausend Schichten an Kleidung an, um mich wenigstens etwas zu wärmen. Doch in der zweiten Hälfte verließen mich die Kräfte. Ich musste mitten in der Stunde erbrechen und bekam extremen Schüttelfrost. Ich kann mich nur mehr daran erinnern, wie jemand schrie: „Holt einen Arzt!“
Danach verließ mich mein Gedächtnis für mehr als 3 Monate. Ich wurde durch eine Magensonde zwangsernährt und meinen Geburtstag bekam ich gar nicht mit. Ich war ein psychisches Wrack mit 30 Kilo und 5 Gramm.
Man gab mir nicht mehr lange zu leben, doch ich kämpfte und so erwachte ich aus dem Koma und begann wieder selber zu atmen.
Nun bin ich schon seit einem Jahr in der Klinik, und nach und nach versuche ich, wieder zu essen und mich nicht als dickes Mädchen zu sehen. Manchmal gelingt mir das.
Die Ärzte meinen, ich mache große Fortschritte. Aber ich bin nicht krank, die Magersucht ist Teil meines Lebens. Ich liebe sie und hasse sie zugleich, doch sie ist noch immer wie eine beste Freundin für mich. Ich habe gelernt, dass manche Freundschaften nicht für ewig gemacht sind. Deshalb wird sich mein Weg mit der von der Magersucht trennen, doch dies dauert noch seine Zeit! Bis dahin hoffe ich, dass ich anfange, mich selber zu lieben, mit welchem Gewicht auch immer!
Die Autorin dieser Geschichte zum Thema "Magersucht" war zum Zeitpunkt der Entstehung Schülerin des 3. Jahrgangs der HLA
(3.2.2013) und hat 2015 maturiert. Sie studiert in Berlin